rnrnAli-Ridha Chennoufi über die Zukunft der Arabellionrn rnEuropas Blick auf die Länder des Maghreb habe sich geändert, sagt der tunesische Gelehrte Ali-Ridha Chennoufi: Die Sympathie für die Vorgänge der Arabellion des letzten Jahres sei in Misstrauen gegenüber dem Fortgang des Demokratisierungsprozesses umgeschlagen. Es klingt Bitterkeit aus den Worten Chennoufis, die sich indes verflüchtigt, wenn man ihm entgegenhält, dass weniger blankes Misstrauen als vielmehr ein skeptischer Realismus an die Stelle der übergroßen Erwartungen getreten ist, mit denen die Welt auf die Länder des südlichen Mittelmeeres geblickt hatte. Chennoufi stimmt zu. Übergroße Erwartungen sind ein Phänomen, das ihm aus seiner tunesischen Heimat vertraut ist.
rnrnAls er nach seinem Vortrag über die politischen Umbrüche in Tunesien, Libyen und Marokko gefragt wird, ob nicht die islamische Welt ein eigenes politisches Modell entwickeln sollte, anstatt mit den Werten des Westens auch dessen politische Institutionen zu adaptieren, sagt Chennoufi mit nachsichtigem Lächeln, bei einer solchen Frage fühle er sich nun wirklich wie zu Hause. Dann folgt ein Satz, der irritiert: "Ich habe immer ein wenig Angst vor dem Eigenen." Erst der Nachsatz lässt erkennen, was Chennoufi damit meint: "Denn ich weiß nicht, was das sein sollte, dieses Eigene, wenn von Freiheit und Menschenrechten die Rede ist."
rnrnAli-Ridha Chennoufi, Leiter des Instituts für Philosophie an der Universität Tunis, fragt an diesem Abend im Forschungskolleg der Universität Frankfurt in Bad Homburg nicht, wie der Demokratisierungsprozess in den Maghrebstaaten voranzutreiben wäre. Er geht einen Schritt zurück und fragt, was nötig ist, um das Erreichte zu sichern. Was muss getan werden, um einen Rückfall in die Despotie unmöglich zu machen? Welche Institutionen sind dafür nötig, und von welcher Seite könnte Gefahr drohen?
rnrnAnders als in Libyen, wo Polizei und Armee noch zu einem großen Problem werden könnten, gilt die tunesische Armee als Garant der Stabilität. Sie hat dem Diktator im entscheidenden Moment die Unterstützung versagt, so dass Ben Ali aus Tunesien flüchten musste. Außerdem haben die Generäle zu erkennen gegeben, dass sie wenig Sympathien für die Regierungspartei Ennahda hegen. Vor allem liberale und laizistische Kräfte stehen der Partei der gemäßigten Islamisten, die zurzeit den Ministerpräsidenten stellt, nach wie vor misstrauisch gegenüber. Sie denken deshalb über ein Modell nach türkischem Vorbild nach, bei dem die Armee darüber wachen könnte, dass demokratische Spielregeln eingehalten werden und die Sphären von Staat und Religion getrennt bleiben.
rnrnIslamistische Kräfte möchten ganz andere Wächter installieren, die als "Tugendkomitees" oder "Hoher Islamischer Rat" rasch große Macht im Land gewinnen könnten. Tunesiens Ministerpräsident Hamadi Jebali hat bei seinem Deutschland-Besuch vor wenigen Wochen solchen Forderungen in der Heimat eine klare Absage erteilt. Außerdem, so Chennoufi, habe Ennahda vor etwa drei Wochen nach heftigen Debatten erklärt, dass man darauf verzichten will, die Scharia zur Grundlage der neuen tunesischen Verfassung zu machen, wie dies in Libyen der Fall sein wird, wo Chennoufi einen "Scharia-Staat" und die Rückkehr zur Polygamie vorhersagt.rn
rnrnIn Marokko, wo Oppositionsparteien an der Regierung beteiligt wurden und die Presse nur schreiben darf, was ihr nicht verboten wurde, stellt sich die Situation wiederum anders dar. Die marokkanische Verfassung, sagt Chennoufi, bekennt sich zu westlichen Werten und gibt sogar internationalen Verträgen und Verpflichtungen den Vorrang gegenüber anderslautenden Regelungen, die auf nationaler Ebene getroffen wurden. Allerdings stellen die letzten Absätze der Verfassung alles Vorangegangene unter den Vorbehalt, dass Gesetze, Identität und Kultur Marokkos nicht verletzt würden. Aber wer bestimmt über die marokkanische Identität und den Grad ihrer Empfindlichkeit? Im Zweifelsfall ist dies immer noch der Monarch. Reformen sind nur unter der Prämisse seiner Unantastbarkeit möglich.
rnrnIn Marokko haben Islamisten zu verhindern gewusst, dass das Recht auf Gewissensfreiheit in der Verfassung verankert wurde. In Tunesien, wo Chennoufi zu den Beratern der Verfassunggebenden Versammlung gehört, könnte es anders kommen. Die Verfassungen, die sich die Länder des Maghreb geben werden, sind wichtige Weichenstellungen für die Zukunft des Landes. Die Freiheit der Presse entscheidet darüber, ob eine Kontrolle der Regierungen möglich ist. Sehr viel wird davon abhängen, ob das Volk, das erfahren hat, dass Macht nicht allein in den Händen derer liegt, die das Gewaltmonopol ausüben, weiterhin die Kraft aufbringen wird, seine Rechte einzufordern und mit Massendemonstrationen Regierungsentscheidungen rückgängig zu machen. Langfristig, da ist sich Chennoufi sicher, wird die Entwicklung in Tunesien und anderen arabischen Ländern sehr stark von der Frage der Gleichberechtigung abhängen. Wo die Stellung der Frauen gestärkt wird, hat auch der Reformprozess eine Zukunft. (Hubert Spiegel)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, vom 20. April 2012, S. 33
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