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Frankfurter Allgemeine Zeitung
Lokalbahnhöfe der Weltkulturen

Die Regionalstudien blühten mit der Globalisierung auf und versprachen eine neue theoretische Sicht auf die Welt. Wo stehen sie heute?

Die Frage, ob die Zerlegung der Welt in Gebiete überhaupt einen sinnvollen wissenschaftlichen Ansatz bildet, kam erst gegen Ende der Veranstaltung. Könnte man nicht mit gleichem Recht Astrophysiker und Mikrobiologen statt nigerianischer und ghanaischer Kultur vergleichen, fragte der Soziologe Rudolf Stichweh. Dass Menschen in lokaler Nachbarschaft dichtere Bezüge weben, ist auch in der globalisierten Welt keine überholte Erkenntnis. Stichwehs nicht einmal provokant gemeinte Frage traf dennoch ins Herz einer unscharfen Disziplin.

 Regionalwissenschaften oder Area Studies stellen Wissen über Räume zur Verfügung. Wie sie das tun und welche Aspekte sie auswählen, ist nicht klar umrissen. Ein Experte für georgische Gegenwartslyrik kann einem Germanisten ähnlicher sein als einem Wirtschaftshistoriker, der den kaukasischen Handel erforscht. Politik und Wirtschaft stellen sich Regionalwissenschaftler gern als allwissende Antwortautomaten vor, die auf jegliche Nachfrage aus dem Stegreif referieren. Die Wissenschaft pflegt das Idealbild des Gebietsexperten, der sein Wissen selbstlos den Fächern zuträgt, die Blickbeschränkungen der im nationalstaatlichen Korsett gewachsenen Wissenschaften aufhebt und nebenbei internationalen und interdisziplinären Austausch ankurbelt. In der Praxis waren zuletzt eher Abschottungstendenzen zu erkennen.

Globalisierung und Internationalisierung haben diesen Wissenschaften, die sich oft im Kalten Krieg aus geostrategischen Interessen bildeten, eine neue Blüte beschert. Zusätzlichen Rückenwind gab die kulturalistische Wende der neunziger Jahre, die lokale Wurzeln des Wissens betonte, sensibilisiert von weltpolitischen Umbrüchen wie dem Kollaps des Kommunismus und dem 11. September, die den Blick in die Peripherie gelenkt hatten.

Der rasche Aufschwung war vom Protest der Philologien begleitet, die eine Verdrängung philologischer Kenntnis durch konturlose Sammelbehälter für landeskundliches Wissen beklagten. In der Tat gibt der kulturalistische Blickwechsel noch keine Methode vor. Seit ihrem Bestehen ist das Problem der Regionalstudien ihre Anbindung an die Fachwissenschaften, die gern die systematischen Wissenschaften genannt werden, was den eigenen Mangel an Methode eingesteht.

Im Bad Homburger Kolleg für Humanwissenschaften, wo man den Aufschwung im Rahmen der Reimers-Konferenzen vor über fünfzehn Jahren mit zwei maßgeblichen Publikationen vorangetrieben hatte, war man zur kritischen Selbstprüfung zusammengekommen. Bläst der Aufwind noch? Zumindest die äußeren Zeichen stehen weiter auf Expansion. Musikwissenschaften und Sinologen sind hinzugekommen. Die Rechtswissenschaften sind schon länger im Boot. Ökonomen werden weiter vermisst.

Der Afrika-Historiker Andreas Eckert eröffnete die Konferenz mit einem verhaltenen Ausblick. Wenig Fortschritte sind bei der methodischen Schärfung zu verzeichnen. Die Area Studies bleiben ein loses Bündel ohne dezidierte Theorie. Eckert konstatierte eine Neigung zum methodischen Konservativismus, wo es zur Integration fachlicher Theorie kommt, oder zur Flucht in die reine Empirie. Methodisch uneingelöst bleibt der Versuch, kulturelle Verflechtungen zum theoretischen Fixpunkt zu machen, nachdem man den Raum als festen Bezugspunkt der Kultur aufgegeben hat. Das ist zwar partiell sinnvoll, zumal im Digitalzeitalter, wo IS-Kämpfer in Hiphop-Posen aufmarschieren, birgt aber die Gefahr, den Gegenstand aus den Augen zu verlieren. Die Völkerrechtlerin Isabell Feichtner hob hervor, dass sich manche Gegenstände nur mit eurozentrischem Blick behandeln lassen, wie die europäisch verwurzelte Dogmatik des Völkerrechts.

Ganz anders die institutionelle Seite: Hier sind die Regionalstudien ein blühendes Feld, das sich vor Drittmitteln kaum retten kann. Wie soll es weitergehen? Was die Ausbildung betrifft, ist der Idealtyp der primär fachlich gutausgebildete Wissenschaftler mit regionaler Kompetenz. Erwünscht sind mehr Studiengänge mit Doppelprofil. Im Institutionellen schieden sich die Geister an der Frage, ob man die Nische in Form von Projekten und Zentren kultivieren oder wieder näher an die Fachdisziplinen rücken solle. Die Fächer sind für die internationale Öffnung, vorsichtig gesagt, in unterschiedlichem Maß empfänglich.

Der Rechtswissenschaftler etwa, der sich dem Transnationalen verschreibt, landet im eigenen Land leicht im Abseits. Die Finanzierung läuft über internationale Projekte, die deutsche Wissenschaftskultur ist durch die starke dogmatische Ausrichtung und den Vollständigkeitsanspruch des Staatsexamens unflexibel. Wer sich internationalisiert, darf das gerne tun, bekommt aber keine deutsche Professur. Rudolf Steinberg, ehemaliger Universitätspräsident in Frankfurt, sah darin ein ernsthaftes Problem der Rechtswissenschaften, die sich international marginalisierten. In den Area Studies sind juristische Themen stark vertreten, werden aber bezeichnenderweise von Nichtjuristen betrieben.

In der Musikwissenschaft firmieren transnationale Ansätze meist unter dem Label der Musikethnologie und sind vergleichsweise marginal. Die Kunstgeschichte sucht die Öffnung, ist aber institutionell noch schwach besetzt. Den größten Aufwind hat die Sinologie, die sich dennoch mehr als Philologie denn als Regionalwissenschaft begreift.

Dissens herrschte in der Frage, wie weit sich die Sozialwissenschaften dem Kulturalismus geöffnet haben. Die im soziologischen Kulturalismus dominierende politiknahe Ausrichtung wurde nicht grundsätzlich abgelehnt. Weitgehend einig war man sich in der Distanz zum kulturalistischen Fundamentalismus. Rudolf Stichweh plädierte für einen lokal reflektierten Universalismus, der das Begriffsbesteck der Soziologie nicht einfach wegwirft, schon weil soziale Differenzierung der kulturellen vorausgehe.

Eine Forderung von damals ist zumindest erfüllt: Regionalinstitute schießen im Ausland wie Pilze aus dem Boden, wenngleich von Disziplin zu Disziplin in sehr unterschiedlichem Maß. Die Sozialwissenschaften fühlen sich weiter zu Hause am wohlsten, die Geschichtswissenschaften expandieren zügig. Noch schöner wäre es, wenn die Forscher des Gastgeberlandes in diesen Instituten häufiger zum Zug kämen. THOMAS THIEL (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Natur und Wissenschaft vom 30. Juli 2014, S. N3)

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