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rnrnPolitische Gewalt und Demokratie am Beispiel Indiens
rnDie Politikwissenschaftlerin Neera Chandhoke von der Universität Delhi arbeitet am Forschungskolleg Humanwissenschaften über eine »unglückliche Koexistenz«
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Neera Chandhoke folgt einer Einladung der Forschergruppe „Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit – konkret und global“, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Goethe-Universität gefördert wird. Die Leitung der Justitia-Gruppe haben die politischen Philosophen Rainer Forst von der Goethe-Universität, der auch einer der Sprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ ist, und Stefan Gosepath, bis zum vergangenen Semester ebenfalls in Frankfurt, jetzt an der FU Berlin. Während ihres sechsmonatigen Aufenthalts am Bad Homburger Kolleg geht Neera Chandhoke am Beispiel ihres Heimatlands der Frage nach, in welcher Beziehung Demokratie und politische Gewalt stehen und inwiefern bestimmte Formen politischer Gewalt auch in einer Demokratie als gerechtfertigt erscheinen können. Erklärtes Ziel der indischen Aufständischen ist das Wohlergehen der Bevölkerung – ein Ziel, das freilich ebenso und per definitionem der demokratisch verfasste Staat verfolgen müsste. Trotzdem ist Indien gekennzeichnet von einer „unglücklichen Koexistenz von Demokratie und Gewalt“, so Neera Chandhoke. rnrn
Die Wissenschaftlerin verweist auf die Ergebnisse eines Expertenberichts, in Auftrag gegeben von der indischen Regierung. Demnach leben rund 84,3 Millionen Menschen in den Gebirgs- und Dschungelregionen Zentral- und Ostindiens ‒ den Hochburgen der Aufständischen ‒ in bitterer Armut. Es handelt sich zum überwiegenden Teil um Ureinwohner Indiens und Angehörige der unteren Kasten. Ihre Benachteiligung resultiert aus der althergebrachten sozialen Ordnung. Die Regierung, so der Bericht, habe es versäumt, dringende Reformen für soziale und ökonomische Gerechtigkeit umzusetzen. Ein Großteil der Militanz, so folgert der Bericht, beruhe auf einem mangelhaften Zugang der Bevölkerung zu grundlegenden Lebenschancen. rnrn
Die Fakten scheinen unbestreitbar. Doch was folgt daraus für das Verhältnis von politisch und sozial motivierter Gewalt auf der einen und Demokratie auf der anderen Seite? Eigentlich müssten benachteiligte Bevölkerungsgruppen in einer funktionierenden Demokratie auch jenseits eines bewaffneten Kampfes über adäquate Einflussmöglichkeiten verfügen; ganz zu schweigen davon, dass eine Demokratie allen Bürgern gleiche Lebenschancen garantieren muss. Beides – Partizipationsmöglichkeiten und Gleichbehandlung – sei im vorliegenden Fall jedoch nicht gewährleistet, betont Neera Chandhoke. So gesehen könne, zumindest auf den ersten Blick und in bestimmten Kontexten, politische Gewalt auch in Demokratien als moralisch gerechtfertigt erscheinen, weil, so die politische Philosophin, „die betreffenden Gruppen keine anderen Möglichkeiten haben, auf die sie zurückgreifen können“, um ihre offensichtliche Benachteiligung und Ausgrenzung zu überwinden.rnrn
Bei manchem Verständnis für die Motive der Aufständischen hält Chandhoke ihrerseits den Weg der Gewalt nicht für die richtige Lösung. Ihre Forschungsarbeiten in Bad Homburg sind Teil einer größeren Studie über politische Gewalt in Demokratien. In ihrer Argumentation gegen Gewaltanwendung bezieht sich Chandhoke u.a. auf keinen geringeren als den Wegbereiter der indischen Unabhängigkeit und Demokratie, auf Mahatma Gandhi. Es gelte, so Neera Chandhoke, Gandhi auch als politischen Philosophen wiederzuentdecken.rnrn
Der Beitrag von Bernd Frye erscheint im UniReport der Goethe-Universität 1/2013. rnFoto: Stefanie Wetzel