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Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ideen der Kinderladen-Bewegung
1969 wurden sie in der liberalen Presse gefeiert, heute noch wirken sie nach

Viele der Erziehungspraktiken, die wir als selbstverständlich wahrnehmen, verdanken wir den Achtundsechzigern. Dies jedenfalls glaubt der Demokratieforscher Till van Rahden. Er bekleidet den Canada Research Chair in German and European Studies an der kanadischen Université de Montréal. In seinem Vortrag "Eine Welt ohne Familie: Der Kinderladen als ein demokratisches Heilsversprechen" am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg beleuchtete er unlängst den unvergleichlichen Anklang, den die Kinderläden in Deutschland fanden; ihr Einfluss sei bis in die Gegenwart spürbar.

In keinem anderen Land waren Kommunen und Kinderläden so populär wie in der Bundesrepublik. Und dies nicht nur in Berlin, Frankfurt und Bremen - selbst in Kleinstädten war damals ein Kinderladen zu finden. In den Vereinigten Staaten, wo Kommunen zur Hippie-Bewegung gehörten, blieben sie eine unkonventionelle Ausnahme. In Deutschland stießen sie auf einen breiten Konsens. Grund dafür war das Bedürfnis nach einer Erziehung, die nach den Verheerungen des NS ein demokratisches Denken erzeugen könne. Stand in den fünfziger Jahren noch die Familie als Ort der Einübung demokratischer Lebensformen im Zentrum, so galt seit Mitte der sechziger Jahre das Patriarchat der bürgerlichen Familie als Ursache des "autoritären Charakters". Die antiautoritäre Bewegung wollte in der Familie die "Keimzelle des Obrigkeitsstaats" erkennen, einen "Ort der Repression, der die demokratische Ordnung auszuhöhlen drohe".

Die antiautoritäre Bewegung wurde sehr ernst genommen - so sehr, dass es manchen Vordenkern unheimlich wurde. Die Manifeste und Anleitungshefte der Bewegung fand man in Verlagen wie Rowohlt, S. Fischer und Hanser. Sogar die katholische Caritas öffnete ihren eigenen Kinderladen. Die Presse schwärmte von den Antiautoritären. "In einer Welt, die gebietet und verbietet, gibt es jetzt ein paar Inseln des Gewährenlassens", hieß es im Aufmacher der "Zeit" im Januar 1969. Es seien junge Eltern, die "die Aufgabe, ihre Kinder zu Menschen des dritten Jahrtausends zu erziehen, sehr ernst nehmen", vermeldete der "Weser Kurier" im März 1970. Sogar die katholische Zeitschrift "Frau und Mutter" erklärte, dass die Demokratie am Spielplatz beginne und lobte die antiautoritäre Version als "Chance, veredelnd auf die Moralvorstellungen und die Umgangsformen zu wirken". Das freie Spiel, der lässigere Umgang mit Schmutz und das Bemalen von Wänden - all dies findet man heute in jedem Kindergarten, ob kirchlich, kommunal oder frei.

Was überrascht, ist allerdings die nonchalante Weise, mit der damals Gesellschaft und liberale Presse die dunkle Seite der antiautoritären Bewegung verdrängten. Nicht nur die Vorstellungswelt der Kommunen, wo, wie man heute weiß, die Ideologie der freien Sexualität auch oft zum Kindsmissbrauch führte. Eine "Erziehung zum Ungehorsam", so der Titel eines von Gerhard Bott herausgegebenen Buches, galt als das Gegengift zum Obrigkeitsstaat. Dass Kinder dabei zur Projektionsfläche von revolutionären Phantasien wurden, fiel damals nur wenigen auf.

ALEXANDRA BELOPOLSKY

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Geisteswissenschaften, vom 30. Juli 2014, S. N3.

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