Historisches Kolleg
»Aufenthalt mit Auswirkungen«
Till van Rahden über sein Fellowship am Historischen Kolleg und die Strahlkraft der Bad Homburger Forschergemeinschaft

Der Historiker Till van Rahden ist Professor für Deutsche und Europäische Studien an der Université de Montreal in Kanada. Zusammen mit Gustavo Corni (Trient, Italien) und Christopher Clark (Cambridge, England) gehörte er zu den Fellows im Auftaktjahr des Historischen Kollegs. Till van Rahden verbrachte rund vier Monate in Bad Homburg. Er nahm an der internationalen Fachtagung »Europa 1914 – Der Weg ins Unbekannte« teil und organisierte die geisteswissenschaftliche Tagung »Forms, Style, and Manners: Democracy as a Way of Life«, hielt einen öffentlichen Vortrag zum Thema »Eine Welt ohne Familie: Der Kinderladen als demokratisches Heilsversprechen« und leitete einen Workshop für Nachwuchswissenschaftler der Goethe-Universität. Das Kolleggebäude am Wingertsberg ist für ihn vertrautes Terrain. Im Jahr 2010 war van Rahden auf Einladung des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften. – Im August sprach er mit Bernd Frye über seinen Aufenthalt am Kolleg.


Till van Rahden im Gespräch mit der Sponsorin des Historischen Kollegs Dagmar Westberg

Bernd Frye:
Herr Professor van Rahden, Sie waren in einem Jubiläumsjahr von großer internationaler Bedeutung Fellow in Bad Homburg. Beflügeln solche runden Jahreszahlen oder stören sie bei der konzentrierten wissenschaftlichen Arbeit?

Till van Rahden:
Weder noch. Als Wissenschaftler interessiere ich mich für Fragen, die ich für zentral und wichtig halte. Dazu gehört auch die Frage nach dem öffentlichen Verständnis von Geschichte. Aber das ist in der Regel abgekoppelt von Jubiläumsdaten. Innerhalb der breiten Öffentlichkeit spielen solche Jubiläen oft eine zentrale Rolle. Und es ist auch nicht abwegig, als Fachhistoriker darauf zu reagieren und sich in die öffentlichen Debatten einzumischen. Für meine eigenen Forschungsschwerpunkte versuche ich jedoch, mich von solchen publizistischen Konjunkturen zu lösen. Sonst wird Forschung zu kurzatmig, und es geht die Möglichkeit verloren, in Ruhe und mit einem entsprechenden Abstand über eine bestimmte Frage länger nachzudenken und auch die empirische Forschung so vorantreiben zu können, dass es überhaupt möglich ist, zu sinnvollen neuen Aussagen über historische Zusammenhänge und ihre Bedeutung für die Gegenwart zu kommen.

Frye:
Das erste Jahr des Historischen Kollegs hatte das Oberthema »Die Welt um 1914«. Gleichwohl – und vorher auch so geplant – war auch Platz für andere Forschungen. In einem Ihrer Projekte ging es um die Geschichte des Begriffspaares von Mehrheit und Minderheit und wie wir es heute verstehen. Und das hat interessanterweise dann doch wieder etwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun.

Van Rahden:
Wir wissen inzwischen viel über die Diplomatie- und Militärgeschichte des Ersten Weltkrieges. Und inzwischen wissen wir manches über die Sozialgeschichte, also etwa die Fragen, wie einfache Soldaten, Frauen an der Heimatfront oder Krankenschwestern den Krieg erlebt haben und wie sich ihr Leben infolge des Krieges verändert hat. Worüber wir aber dagegen weniger wissen, sind die ideengeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Verschiebungen infolge des Krieges. Und mich interessiert in diesem Zusammenhang, wie sich das öffentliche Nachdenken über die Frage der kulturellen Vielfalt in den europäischen Gesellschaften veränderte. Manches davon hat damit zu tun, dass am Ende des Ersten Weltkriegs vier multinationale, multiethnische Imperien zerbrechen. An ihre Stelle treten neue Nationalstaaten, in denen die Öffentlichkeit ein höheres Maß an ethnischer, religiöser und kultureller Homogenität erwartet. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Sondern: Die Art und Weise, wie über solche Fragen diskutiert wird, welche Begriffe im Vordergrund stehen, verändert sich völlig.

Frye:
Inwiefern?

Van Rahden:
Für mich ist es frappierend, dass dieses für uns so selbstverständliche Begriffspaar, nämlich die Idee, dass es in einer Gesellschaft eine Mehrheit gibt und eine oder mehrere Minderheiten – kultureller, ethnischer, religiöser Art –, dass dieses semantische Koordinatensystem eines ist, das sich vor 1914 in keiner der großen europäischen Sprachen finden lässt. Aber 1919, bei den Pariser Friedensverhandlungen, spielt dieses Begriffspaar plötzlich eine zentrale Rolle und findet dann auch Eingang in alle europäischen Sprachen. Umgehend gibt es umfangreiche Einträge in den Lexika. Und dieses Begriffspaar ist heute ein gleichsam selbstverständlicher Rahmen geworden, in dem wir über Fragen der kulturellen Vielfalt und auch Fragen der Zuwanderung nachdenken. Wir gehen davon aus, dass es sich um ebenso selbstverständliche wie unschuldige Begriffe handelt. Dabei ist es buchstäblich ein Neologismus, der erst um 1919 geprägt wird, und zwar unmittelbar im Zusammenhang mit der kulturell-politischen Verschiebung des europäischen Koordinatensystems, das sich infolge des Krieges und der Kriegsmobilisierung der europäischen Gesellschaften ergab.

Frye:
Auf der Fachtagung »Europa 1914 – Der Weg ins Unbekannte« haben sie darüber am Kolleg einen Vortrag gehalten. Er hieß: »Mehrheit und Minderheit: Die Geburt eines asymmetrischen Gegenbegriffs im Schatten des Kriegs«. Wie wurden denn die Begriffe zuvor benutzt?

Van Rahden:
Es gab beispielsweise ein rein numerisches Verständnis des Gegensatzes von Mehrheit und Minderheit. Es entsteht in den Vorformen moderner Parlamente und meint zunächst nur das, wie wir es auch heute kennen, wenn wir etwa im Bundestag von einer Mehrheit oder einer Minderheit sprechen. Es geht also um numerische Verhältnisse, die nach einer Wahl auch ganz andere sein können. Das ist eine alte Verwendung dieses Begriffspaares, die auch nicht in einem emphatischen Sinne als asymmetrisch zu kennzeichnen ist, sondern davon ausgeht, dass das Verhältnis zwischen Regierungsfraktion und Oppositionsfraktion umkehrbar ist.

Frye:
Und wie entsteht nun das neue Begriffspaar?

Van Rahden:
Es ist in Vergessenheit geraten, dass zumindest die unmittelbaren Nachkriegsjahre nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeit war, in der die Idee der Demokratie zu triumphieren schien. In fast allen europäischen Ländern setzte sich die Demokratie als Regierungsform zumindest für eine kurze Zeit durch. Just in diesem Moment wird das Begriffspaar Mehrheit und Minderheit, das auf eine lange Tradition von parlamentarischen Machtverhältnissen und Abstimmungsverhältnissen verweist, plötzlich aufgeladen mit den Erwartungen und der Assoziation, dass es etwas mit kultureller, religiöser, ethnischer Vielfalt zu tun hat.

Frye:
Welche Rolle spielt die Demokratie dabei?

Van Rahden:
Die Idee der Demokratie weckt bei vielen die Hoffnung auf einen demokratischen Konsens, beruht also auf der Erwartung, dass man sich als gleichberechtigte Staatsbürger gemeinsam auf ein bestimmtes politisches Programm verständigten kann. De facto aber entscheidet am Ende nicht die Allgemeinheit, sondern die Mehrheit. Trotzdem steht die Frage im Raum: Wie passt dieses de facto-Prinzip einer Mehrheitsentscheidung und die politische Legitimität dieser Mehrheitsentscheidung zu der Fiktion einer potenziellen Zustimmung aller? Vermutlich fließt in die selbstverständliche Verwendung des Begriffspaares Mehrheit und Minderheit die Annahme mit ein, dass wir eigentlich in einer Gesellschaft leben sollten, in der wir uns in wichtigen Fragen verständigen, in der ein Konsens die Regel ist. Aus dem vermeintlich nüchternen Begriff der Minderheit wird die Rede vom Minderheitenproblem –eine semantische Verschiebung, die schon 1919 zu beobachten war. Auch heute gibt es eine Identifikation von Mehrheit mit dem Zentrum der Gesellschaft, mit der Mitte der Gesellschaft, mit den sogenannten Leitwerten der Gesellschaft. Und Minderheiten werden als Gruppen gesehen, die die Mitte, wenn nicht bedrohen, dann doch zumindest in Frage stellen oder herausfordern. Die in dem Begriffspaar von Mehrheit und Minderheit aufgehobene Sehnsucht nach Homogenität und Konsens bedroht bürgerliche Freiheitsrechte in ihrer Substanz. Kulturelle Vielfalt ist ja nicht nur eine soziale Tatsache, sondern vor allem die unvermeidliche Konsequenz der Idee der Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger. Die Furcht vor der Vielfalt ist daher eng mit der Angst vor der Freiheit verbunden.

Frye:
Im Rahmen einer Ihrer Forschungsschwerpunkte, der Geschichte der Demokratie, beschäftigten Sie sich in Bad Homburg auch mit dem Thema »Demokratie als Lebensform«. Dazu gehört die Vorstellung, dass eine demokratische Haltung eingeübt werden kann. Für die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg war das eine ganz besondere Herausforderung – und zwar buchstäblich von klein auf.

Van Rahden:
Die Nachkriegsdeutschen mussten, das ist eine schöne Formulierung von Theodor Heuss, mit dem »Buchstabieren« des Wortes Demokratie völlig neu anfangen. Das betraf auch die Frage, welche Rolle die Erziehung, besonders auch in der Familie, für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft spielt.

Frye:
»Eine Welt ohne Familie: Der Kinderladen als ein demokratisches Heilsversprechen« – so hieß Ihr öffentlicher Vortrag am Forschungskolleg. Da haben Sie einen Vergleich zwischen den 1950er Jahren und der Zeit ab 1968 gezogen, der für Erstaunen gesorgt hat.

Van Rahden:
Es gibt eine große Gemeinsamkeit, die häufig übersehen wird, zwischen den Debatten der 50er Jahre und den Debatten der späten 60er Jahre. In beiden Dekaden, die Zeiten des Umbruchs waren, wird der Frage der Erziehung, der privaten Lebensform, eine zentrale Bedeutung zugewiesen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass in den 50er und frühen 60er Jahren die Familie noch ganz im Zentrum steht. Der Leitbegriff in den Debatten ist die Idee der demokratischen Familie, in der demokratische Tugenden, demokratische Umgangsformen eingeübt werden.

Frye:
Und danach gerät die Familie in Verdacht oder sogar in Verruf.

Van Rahden:
Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat damals die Formel »Patient Familie« geprägt, die Familie gilt also als krank. Noch populärer war damals ein Buch, das heute vergessen ist, von einem englischen Psychoanalytiker, David Cooper, das in einer hohen Auflage bei Rowohlt erschienen ist: »Der Tod der Familie«. Cooper hat das nicht nur konstatiert, er hat gefordert, diese Institution endgültig abzuschaffen. Damit einher ging die Vorstellung, an die Stelle der Familien müssten andere Institutionen treten. Das konnten die Wohngemeinschaft oder die Kommune sein, das konnte der Kinderladen sein, als völlig neue Form des Kindergartens.

Frye:
Zumindest für die Kinderläden und die antiautoritäre Erziehung gab es im bürgerlichen Lager ja durchaus Sympathie. Warum kam es dann trotzdem zu Konflikten?

Van Rahden:
In der Tat haben viele, die sich für eine demokratische Familie in den 50er und 60er Jahren einsetzten, zunächst viele Reformvorschläge der 68er begrüßt. Sie wandten sich dann aber entsetzt ab, weil sie glaubten, dass das viel zu radikal würde. Wenn man es verkürzt formulieren will, kann man sagen: Es ging darum, ein bürgerlich-liberales Demokratieverständnis durch ein radikal-sozialistisches Demokratiemodell zu ersetzen. Und das war dann etwas, was spätestes ab 68/69 zu enormen Debatten und Konflikten führt, wo dann auch Verhärtungen ins Spiel kommen, die bis heute nachwirken, die aber den Blick darauf verstellen, wie viele Parallelen es eigentlich in bestimmten Denkfiguren zwischen den 1950er Jahren und der Zeit ab 1968 in diesen Debatten gab.

Frye:
Lassen Sie uns in die unmittelbare Gegenwart springen und damit zu Ihrer Zeit in Bad Homburg, als Sie zusammen mit Ihren Fachkollegen Christopher Clark und Gustavo Corni Fellow im Auftaktjahr des Historischen Kollegs waren. Wie wichtig sind solche gemeinsamen Fellowships für Ihre Forschungen?

Van Rahden:
Ich kenne sowohl Gustavo Corni als auch Christopher Clark schon lange und schätze sie als wunderbar anregende Gesprächspartner. Deshalb war ich dankbar, diese Gesprächsfäden wieder aufzunehmen zu können. Das funktioniert heute selbstverständlich auch viel über E-Mail, aber es ist doch hilfreich und vor allem auch schön, wenn es die Möglichkeit gibt, sich persönlich zu sehen. Das schafft eine andere Atmosphäre und auch eine Form des Vertrauens, die es überhaupt möglich macht, wissenschaftliche Fragen so zu diskutieren, wissenschaftliche Kontroversen in einer Form zu führen, dass man auch Differenzen markieren kann, ohne dass sich der Verdacht einstellt, es mangele an gegenseitigem Respekt und wechselseitiger Wertschätzung. Und da spielt besonders diese ungewöhnliche Atmosphäre des Hauses eine große Rolle: Die Ruhe im wunderbaren Park und das offene, helle Gebäude, der weltoffene Geist aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die kinder- und familienfreundliche Stimmung am Kolleg, aber auch die Tischtennisplatte. Das schafft eine Atmosphäre, in der diese Gesprächskultur gepflegt werden kann – oder auch erst entsteht. Gute Wissenschaft setzt Einsamkeit und Freiheit voraus, aber eben auch ungesellige Geselligkeit an einem schönen Ort.

Frye:
Einrichtungen wie das Historische Kolleg orientieren sich an dem Modell der »Institutes for Advanced Studies«. Zu deren Hauptaufgaben gehört es, Wissenschaftlern Freiräume für ihre eigene Forschung zu geben. Wie relevant ist dieser Aspekt für Sie?

Van Rahden:
Für mich ist das die Chance, eine Zeitlang konzentrierter zu arbeiten, als es an der eigenen Heimatuniversität möglich ist – ohne jedoch ganz alleine zu sein. Das ist der Punkt. Man hat die Möglichkeit, die Tür zu öffnen oder zu schließen. Und hier geht es ja nicht allein um das Historische Kolleg, sondern es geht auch um das Forschungskolleg Humanwissenschaften insgesamt. Man hat die Möglichkeit, sich mit Kolleginnen und Kollegen aus vier, fünf unterschiedlichen Disziplinen intensiv auszutauschen. Und diese Kontakte wirken oft auch über den eigentlichen Aufenthalt hinaus.

Frye:
Können Sie das erläutern?

Van Rahden:
Für mich war das ja jetzt der zweite Aufenthalt. Und ich zehre von den Anregungen und Impulsen, die ich vor vier Jahren hier erhalten habe, denen ich vier Jahre nachgegangen bin. Es geht dabei um die Frage, welchen Beitrag Historiker zu unserem Verständnis von Demokratie – nicht nur als Herrschafts-, sondern auch als Lebensform – leisten können. Die Chance, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen, setzte voraus, dass ich hier einige der weltweit anregendsten Leute kennengelernt habe, die sich in anderen Disziplinen mit ähnlichen Problemen beschäftigen. Dazu gehörten die Philosophin Seyla Benhabib und die Politikwissenschaftler David Owen und Peter Niesen, mit denen ich seitdem in Kontakt stehe. Einrichtungen wie das Forschungskolleg bieten einen ganz großen Luxus, nämlich die Möglichkeit, bestimmte Probleme noch einmal auf eine ganz andere Weise zu durchdenken, und sich tatsächlich auf andere Disziplinen einzulassen. Das ist etwas, das gerade bei Historikern zu selten passiert. Ob nun mit Blick auf die zwei Monate im Jahr 2010 oder mit Blick auf die vier Monate 2014 – ich empfinde das als großes Geschenk und Privileg, für das ich sehr dankbar bin.

(FKH - 23.10.2014)
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